Der Moment, in dem es aufs Gefühl ankommt
Ich schicke diese Gedanken zu meinem Seelenhund Mázli auf die Regenbogenbrücke. Der Entschluss meine Gefühle wieder zuzulassen viel bereits vor vielen Tagen, doch so recht umzusetzen wusste ich ihn nicht. Wie sollte ich wieder beginnen mir Gefühle und Gedanken zu erlauben, von denen es mir so leicht fällt, sie zu begraben? Mein Herz sagt oft zu mir: "Tu dir das jetzt bloß nicht mehr an!".
Worauf mein Verstand erwidert: "Das kann so nicht weiter gehen, ich weiß, was du denkst!". Ich habe Angst. Ungeheuerliche. Weiß aber nicht genau warum. Aber sie ist da. Ben hatte mich in der ersten Zeit, als ich mich dazu entschlossen habe mich meiner Trauer zu stellen, unwahrscheinlich unterstützt. Genau auf diese Stütze baue ich nun wieder. Im Zuge des Relaunchs unseres Reiseblogs wehten bereits die letzten Tage immer stärker Erinnerungen durch die Schlitze meiner Mauer, die ich jedoch - vertieft in die Arbeit - gut stopfen konnte. Heute Mittag war es dann aber mit einem Mal anders. Ich wusste, als Nächstes steht das Aktualisieren der Fotogalerie an und ich ahnte bereits, was mich dort erwarten würde. Vollkommen unerwartet versank ich dennoch fast über eine Stunde in den Gedanken über mich und meine Gefühle. Ich lief dabei auf der Stelle und drehte mich nur im Kreis. Irgendwann kam Ben zu mir und tastete sich zu meinen Gefühlen vor, ganz so wie früher, als hätte er es schon geahnt. Ich begann schwammig mit ihm meine Sorgen zu teilen und er sprang mit einem Mal bestimmend darauf an: „Dann wirst du dich heute wohl der Fotogalerie stellen und alle Fotos durchschauen! ".
Ich wusste, alleine die Fotos zu schauen, löst in mir nichts Tragisches aus, dafür sitzen die Steine meiner Mauer zu fest. Doch Ben ließ nicht locker: „Dann schaust du dir die Bilder halt RICHTIG an, und zwar alle. Geh deine Ordner durch, such dir schöne Fotos für die Galerie aus und vor allem schaust du mal nach Aufnahmen fürs Trauerportal! Hör auf, dich zu wehren, und pack das jetzt endlich mal an. Verdrängen ist absolut keine Lösung, das weißt du doch. Auch wenn es jetzt schwer wird, wir machen das zusammen! Und wenn du reden willst oder die Gefühle dich überfordern, komm zu mir, ich bin keine 6 Meter entfernt! “.
Das habe ich gebraucht. Viele sagen, trauern muss man allein, mit sich und in seinem Tempo, doch ich – halte mich selbst für trauerunfähig – sehe das anders. Ich habe ein unwahrscheinlich großes Problem, den Tod von Mázli zu verarbeiten. Die Schmerzen überkommen mich so stark, dass ich damit nicht auch nur ein bisschen umgehen kann. Zu wissen, dass da jemand ist, der mir hilft, mich dieser Angst zu stellen, und mir die Chance gibt, mich fallen zu lassen, um mich dann aufzufangen - das tut mir unwahrscheinlich gut. Es gibt mir ironischerweise sehr viel Halt.
Ich schnappte mir also meinen Laptop und 2 TB Fotos von über 10 Jahren aus dem Leben mit Mázli. Damit setzte ich mich neben Korny aufs Bett. Stück für Stück arbeitete ich mich durch die Ordner. Es war regelrecht frustrierend. Ich schaute Fotos aus Mázlis erstem Jahr bei meinen Eltern an, Bilder von ihr im Urlaub, am Wasser, in meinem Kinderzimmer und beim Toben mit anderen Hunden. Doch es berührte mich nicht. Es war nicht so, als ob ich Bilder von meinem Hund anschauen würde, er kam mir fremd vor, dieser schwarze Wollknäuel. An fast keinen der abgelichteten Momente erinnerte ich mich und es war eher zäh, als alles andere.
Doch Ordner für Ordner gingen die Fotos aus meiner Kindheit mit kaum 15 Jahren und es kamen mehr und mehr Bilder mit Mázli in meiner 1. Wohnung mit meinem damaligen Freund. Ich erinnerte mich hier und da an einen der festgehaltenen Momente und es kamen natürlich auch ungeheuer viele Erinnerungen und Gefühle an die langjährige Beziehung mit meinem Ex-Freund hoch. Zu unterscheiden, was mich in Gedanken an mein altes Leben schwelgen ließ und was sich auf die Sehnsucht nach Mázli bezog, wurde schwierig und anstrengend.
Mit einem Mal kamen Bilder vom Winter, aus dem Schnee. Mázli liebte den Schnee und als das Foto von ihr, stolz auf einem Stein mit ihrem roten Tuch, in der Galerie auftauchte, merkte ich, wie sich der bekannte Kloß in meinem Hals festigte. Mit einem Mal schossen mir Tränen in die Augen und ich drückte das Bild weiter. Doch es kamen noch mehr Fotos von ihr im Schnee, wie sie ihr Spielzeug apportiert und damit durch das kalteWeiß springt. Eine Träne nach der anderen kullerte über meine Wagen und ich merkte, wie ich begann meine Gedanken in Worte zu fassen und vor mich hin zu murmeln.
Es folgten immer mehr Bilder Richtung Gegenwart und immer mehr abgelichtete Momente, an die ich mich noch lebhaft erinnern konnte. Viele Aufnahmen berührten mich nicht und waren von Freunden oder Ladschaftfotos. Doch hier und da kam immer wieder ein Bild, das mich wahnsinnig emotional machte, ohne, dass ich es wirklich begründen konnte. Oft waren es absolut normale Momente gewesen, in denen die Aufnahme entstanden ist, aber aus irgendeinem Grund waren diese Bilder anders. Es waren meist die unbearbeiteten, authentischen Schnappschüsse, in denen man Mázlis Augen funkeln sehen konnte und den lebhaften Ausdruck in ihrem Gesicht. Das rührte mich zu Tränen.
Nach über einer Stunde – viel zu lang für das erste Mal nach so langer Zeit – merkte ich plötzlich, wie erschöpft ich war. Meine Augen brannten und Kopfschmerzen machten sich breit. Ich hatte so viele Gedanken im Kopf, doch ich wollte sie nicht mehr rauslassen. Es war zu viel. Viel zu viel. Ich klappte den Laptop zu. Für wenige Minuten ging ich vom Bett, um etwas zu trinken. Als ich zurückkam, war alles wie immer. Ich merkte, wie sich die wackelnde Mauer wieder festigte und es war, als wäre nichts gewesen. Ben hatte den zugeklappten Laptop bemerkt und war zu mir gekommen. Gefühlvoll packte er mich, umarmte mich und sah mir in die Augen, um abzuchecken, wie es mir ging.
„Alles gut!“, antwortete ich ihm und meinte es so. Doch es frustrierte mich auch etwas. Hatte die ganze Schei *** nun überhaupt etwas gebracht? Es war ein komisches Gefühl nach dem Durschauen all dieser Bilder und dem emotionalen Hoch und Runter über so viele Minuten. Ben bemerkte meine Frustration und war überrascht: „Du bist wütend? “.
„Ja verdammt!“, kam es aus mir raus, „Dieses ganze Gefühlszeug mit den Bildern ist voll der Müll, es hat gar nichts gebracht!“, genervt über die verschwendete Zeit des Tages, sah ich ihn an. Meine Reaktion war natürlich alles andere als rational, doch das war mir absolut egal. Ich war überfordert und unsicher und es war so ein merkwürdig neues Gefühl, dass sich da in mir breitmachte, ich konnte es nicht einordnen. Und was machte Ben? – Er begann zu lachen!
„Glaubst du etwa eine Mauer, die du über so viele Monate baust, reißt mit einem einzigen Mal Bilderschauen ein?“, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt erklärte er: „Natürlich wackeln die Steine, bis deine Mauer einstürzt, dauert es aber noch eine Weile! Überleg doch mal: Die Mauer, die du selbst aus eigener Kraft um deine Gefühle und Erinnerungen an Mázli gebaut hast, die dich schützen sollte vor Schmerz und das so lange zuverlässig getan hat, die reißt nicht einfach so ein.“, seine Stimme wurde sanfter: „Auch dann nicht, wenn du das jetzt unbedingt willst. So etwas dauert!“
Es erschien mir absolut logisch, was er da sagte, doch es frustrierte mich nur noch mehr. Ich fühlte mich wie ein Kind, das mitten im Juni das Weihnachtsfest wollte. Natürlich geht das nicht einfach so, aber ich wollte es doch unbedingt! Dabei ist dieser Punkt, wo die Mauer reißt und die Gefühle wieder zugelassen werden können noch nicht mal das Ziel. Das Ziel sollte nämlich die ehrliche Akzeptanz sein, mit der ich über Mázli reden können möchte. Es war nicht so wie der 24. Dezember. Der kommt am 24. des letzten Monates im Jahr und Punkt. Nein, dass mit der Trauer ist viel komplizierter, unvorhersehbarer und überfordert mich komplett.
Beruhigend legte Ben meinen Kopf auf seine Brust und begann meinen Rücken zu streicheln. Wir legten uns zusammen ins Bett und ich vergrub mein Gesicht tief in seinem T-Shirt. Ich weiß gar nicht mehr genau, welcher Gedanke es war, der plötzlich einen Schwall an Tränen auslöste. Aber es kam noch ein Gedanke mehr und noch einer und mit einem Mal lag ich schluchzend und sabbernd in seinen Armen und krallte mich regelrecht in seinen Oberarm.
Es machte mich traurig, dass Kondi schon so alt war – ich realisierte wie weh es mir tat, auch ihn auf vielen Bilder gesehen zu haben, jung und fit und glücklich mit Mázli. Mir schossen die Fotos in den Kopf von meiner schwarzen Maus, wie sie immer durch den Schnee gestiefelt war. Sie liebte den Schnee. Wir haben seit Tagen meterhoch Schnee hier in den Bergen und in diesem traurigen, verzweifelten Moment heute Nachmittag wurde mir klar, wie viel ich doch über die letzten Tage immer wieder daran denken musste, dass Mázli der Schnee hier so gefallen hätte.
Ein stoßartiges Schluchzen überkam mich. Meine Gedanken schweiften weiter ab und ich heulte und stotterte nur so vor mich hin. Es kam aus mir raus wie ein Wasserfall. Ich merkte, wie oft ich Chelly mit Mázli verglich und wie oft Chelly mich an sie erinnerte. Ich fragte mich immer und immer wieder, warum Mázli damals unter diesen verdammten Autoreifen gekommen war und wie mir das nicht auffallen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie oft ich ungeduldig mit ihr gewesen war und sie zurechtgewiesen habe, wie oft ich sie unfair behandelt und zusammengeschimpft habe. Mit jeder dieser Erinnerungen kam ein unbändigendes schlechtes Gewissen zusammen mit einem Heulsturz über mich. Viele Eigenschaften von Mázli hatte ich nie zu schätzen gewusst und viele Momente nie wirklich genossen. Doch ich versank nicht in ungerechtfertigter Schuld. Ich wusste, sie hat es verdammt gut bei mir gehabt. Ich hatte auch noch unzählige positive Erinnerungen und Gedanken, die alle durch das Durchschauen der Fotos hochgekommen waren.
Schluchzend redete ich über alles, was mir in den Kopf kam. Ben streichelte schweigend meinen Rücken und war einfach nur da. Die Geborgenheit in seinem Arm und seine Akzeptanz meinem Verhalten gegenüber gab mir Sicherheit. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurden die Gedanken schwächer und die Tränen weniger und ich beruhigte mich. Noch eine Weile lag ich einfach nur so da, bis ich plötzlich Kornys Pfote auf mir spürte. Vorsichtig war er angetappselt gekommen und steckte seine Schnuffel unter meinen Arm.
Ganz langsam kroch er zwischen uns und legte sich sanft neben mich auf Bens Brust. Ich musste schmunzeln und begann ihn zu streicheln. Seine alte, graue Nase machte mir wieder klar, wie lange er nun schon an meiner Seite war und dass ich auch für ihn da sein sollte. Ich bekam meine Lebenskraft zurück und die Energie, mich um Korny zu sorgen. Er hat es verdient, dass ich für ihn da bin. In einem bin ich mir nun verdammt sicher: Die Zeit, mit ihm werde ich so sehr zu schätzen wissen, wie wohl keine jemals zuvor.
Durch die Nähe zu Ben und dem Anreiz zu reden, vielen die ersten Steine heute aus der Mauer, das bloße Bilder schauen hätte das so schnell definitiv nicht geschafft, doch ich weiß, ich darf jetzt nicht nachgeben und muss weiter machen. Ich will mich meinen Gefühlen stellen und meine Schuld verarbeiten. Das Weinen war ein unglaublich befreiendes Gefühl im Nachhinein und durch all das, was ich verloren habe, wird mir umso mehr bewusst, was ich noch habe. Das sollte ich zu schätzen wissen. Unbedingt. Diesen Fehler, mache ich kein zweites Mal.
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