Vom Stallburschen zum Haussitter
Bei unserer Ankunft in Ungarn landeten wir auf einem Gestüt, auf dem wir bei einer Urlaub gegen Hand - Stelle zunehmend mehr wie billige Arbeitskräfte behandelt wurden. Warum wir es dort rückblickend so lange ausgehalten haben, ist uns selbst ein Rätsel. Nun haben wir uns jedenfalls von dem Hof gelöst und konnten die tolle Erfahrung machen, zusammen mit den Vierbeinern für mehrere Monate in einem Haus – nur für uns alleine – zu leben.
Im Süden Ungarns, unterhalb des Balatons, gut 30 km östlich von Nagykanizsa liegt das kleine Zigeunerdorf Nemesdéd, welches knapp zwei Monate unser Zuhause darstellte. Das Urlaub gegen Hand Angebot zum Haussitting war – im Gegensatz zu der Zeit auf dem Gestüt – genau das, was wir brauchten. Den offenherzigen und vertrauensvollen Hausherren Kamala lernten wir bei der Schlüsselübergabe leider nur kurz kennen, bevor er zurück nach Deutschland musste und uns Haus und Hof überließ.
Komplett für uns allein ist der große, eingezäunte Garten und die dutzenden, voll möblierten Quadratmeter des Hauses. Für ein wenig Arbeit auf dem Grundstück dürfen wir dort wohnen und leben. Der Garten besteht aus ein paar Bäumen und großen Wiesenflächen, die perfekt zum Toben und Spielen für die Vierbeiner sind. Die offene Küche beherbergt alles, was man zum Kochen braucht und bietet sogar noch genug Platz zum Tanzen. Auch das Wohn- und Schlafzimmer stellen für uns ganz ungewohnte Freiheiten dar. Ein kleiner Schwedenofen wärmt an kalten Tagen die Räume auf und das WC mit Wanne lädt uns immer wieder zum unbezahlbaren Luxus eines heißen Bades ein. Durch die Angst des Hausherrn, die Zigeuner des Dorfes könnten auf das Grundstück kommen und einbrechen, während er in Deutschland ist, kam er auf das Prinzip des Haussitting zurück. Dementsprechend beruhigte es ihn sogar, dass wir auch noch drei Hunde dabei hatten.
Für uns war es eine spannende Erfahrung, in einem Zigeunerdorf zu leben und die Mentalität dieser Menschen kennenzulernen. Vom Grundgedanken her, hielten wir Zigeuner für nichts Schlimmes, doch dieses ungarische Teil-Volk – so wie wir es erlebten – war rücksichtslos, dreist und hielt tatsächlich, was uns darüber versprochen wurde. Durch unsere Vierbeiner trauten sich die Menschen im Dorf meist nicht all zu nah an uns heran. Wir hatten über die Zeit in Nemesdéd nie wirklich viel Kontakt mit den Zigeunern, doch wir lernten viel über ihr Leben kennen. Rücksichtslos der Natur gegenüber warfen sie ihren Abfall auf die Straße und entsorgten ihn im Wald. Riesige Berge voll Müll – feinsäuberlich sortiert – trafen wir auf unseren Spaziergängen an. Kühlschränke, Motorhauben, Kleidung und Spielzeug stapelten sich meterhoch an den Ablagestellen der Zigeuner, inmitten scheinbar unberührter Natur. Auch das ein oder andere Auto wurde mitten im Wald innerhalb eines Tages fachgerecht zerlegt und die gewinnbringende Einzelteile abtransportiert. Zurück blieb dann das Wrack des Autos im Wald.
Mit ihren Tieren gingen sie ebenso verständnislos um, wie mit der Natur. Vor nahezu jedem Hof war ein Hund angebunden. Mit einer Kette, teilweise kürzer als Trollys Leine, wurden die Vierbeiner vor dem Haus zum Bewachen eingesetzt. Tag und Nacht angebunden, unter den furchtbarsten Bedingungen, lebten diese armen Kreaturen ihr trostloses Dasein. Gerade dieses Leid zu sehen und ertragen zu müssen, stellte für uns eine große Herausforderung dar. Problemlos hätten wir die Hunde befreien und mitnehmen können. Sicherlich hätte sich keiner dafür interessiert, doch am nächsten Tag wäre schon der nächste Vierbeiner an der Kette gehangen. Was hätten wir mit den Dutzenden von geretteten Tieren machen sollen? - Schnell merkten wir, dass uns diese Gedankengänge nicht weiterbrachten. Wir haben unser Tierschutz-Soll mit unseren drei Schnuffelnasen bereits erfüllt und besonders mit Trolly hätten wir sowieso keinen einzigen weiteren Vierbeiner aufnehmen können, ohne dass er ihn zerfleischt.
Die Wege durch das Zigeunerviertel begannen wir also zu meiden und suchten uns andere Strecken zum Laufen mit den Hunden. Am Ende des Dorfes entdeckten wir nach einiger Zeit eine schöne Runde über Wiesen und Felder durch ein etwas wohlhabenderes Wohngebiet. Auch dort gab es immer noch Zigeuner. Am leichtesten erkannte man ihre Häuser daran, dass die Tür- und Fensteröffnungen nur mit Leintüchern behängt waren. Uns wurde erzählt, die Menschen brauchten im Winter so dringend Holz zum Heizen, dass sie alle früher oder später ihre Türen und Fenster zu Brennholz verarbeiteten, um über den Winter zu kommen.
Doch in dem wohlhabenderen Viertel am Ende des Dorfes war einiges anders. Es gab mehr Deutsche, Auswanderer und anständige Ungarn, die dort ihre Häuser und Grundstücke besaßen. Wir lernten viele frei laufende Vierbeiner kennen und trafen zahlreiche Hofhunde, die ganz ohne Kette leben durften. Es machte uns fast schon Spaß, unsere Runden durch das Wohngebiet zu drehen. Nach einigen Wochen erwarteten uns die Hunde der Straße bereits voller Vorfreude, denn sie hatten recht schnell gelernt, dass es bei uns das ein oder andere Leckerlie abzustauben gab.
Nach langen Abenden im Haus und vielen Unterhaltungen über die Zukunft, kamen natürlich auch unsere Vierbeiner ins Gespräch. Gemeinsam entschieden wir uns dazu, dass mit Trolly trainiert werden musste. Auch wenn nicht abzuschätzen war, wie viel er begreifen und lernen konnte, wollten wir unbedingt den Versuch wagen, seine Trigger zu kontrollieren. Ohne einen Weg, seine Angst und die damit einhergehende unberechenbare Aggressivität in den Griff zu bekommen, konnten wir nicht weiterreisen. Trolly bekam also einen Maulkorb und wurde mit den Straßenhunden konfrontiert. Das Training war nervenaufreibend und wurde nie langweilig, doch es zeigte irgendwann Wirkung. Wir unterbanden das unerwünschte Verhalten des Vorwärtsgehens und belohnten das Ausweichen und den Blickkontakt zu uns. Nach fast zwei Monaten hatten wir – mit zahlreichen Rückschlägen – tatsächlich eine halbwegs stabile Bindung zu Trolly aufgebaut und konnten ihn zu einem absoluten Großteil von (Alltags-) Situation korrekt einschätzen und rechtzeitig einschreiten.
All die Straßenhunde stellten aber nicht nur ideale Trainingspartner für Trolly dar. Auch Korny konnte seinen Mehrwert aus den Vierbeinern ziehen und fand den einen oder anderen guten Buddy während unserer Spaziergänge. Ein Hund hatte es uns dabei ganz besonders angetan. Es schien eine junge Labradorhündin zu sein, die uns teilweise unsere komplette Runde begleitete und sich unwarscheinlich über Streicheleinheiten und jede noch so kleine Aufmerksamkeit freute. Sie war anders wie all die anderen Hunde auf der Straße und hatte etwas unbeschreibliche Gutmütiges an sich. Weihnachten rückte langsam näher und wir begannen uns zu fragen, wie lange wir in Ungarn bleiben sollten. Auch wohin es als Nächstes ging, war noch nicht ganz klar, als wir aber immer und immer wieder die junge Hündin bei unseren täglichen Spaziergängen trafen, waren wir uns schnell einig darüber, dass wir sie nicht einfach so zurücklassen können.
Wie unsere Zeit in Ungarn weiter - und schließlich zu Ende - ging, kannst du im Artikel Reisetagebuch Ungarn 3/3 gerne nachlesen.
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